Selbstfürsorge in
neurodivergenten Beziehungen
Wie Partner:innen von Personen mit ADHS ihr Wohlbefinden stärken können
Viele Partnerinnen von Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) fühlen sich hin- und hergerissen: Zwischen Verständnis und Überforderung, Fürsorge und Selbstverlust, Hoffnung und Erschöpfung. ADHS im Erwachsenenalter ist mehr als „ein bisschen vergesslich oder unruhig“ – es beeinflusst Denken, Fühlen, Verhalten und vor allem: Beziehungsmuster.
Dieser Artikel richtet sich sowohl an neurodivergente (ND) als auch an neurotypische (NT) Partner:innen, die in einer Beziehung mit einem/r neurodivergente(n) Partner:in leben. Dieser Artikel bietet fundiertes Wissen, benennt typische emotionale Fallstricke – und zeigt, wie Selbstfürsorge zu innerer Stärke und Beziehungsfähigkeit führen kann.
ADHS & Beziehungen
Was bedeutet Neurodivergenz – und warum ist ADHS in Beziehungen besonders relevant?
Der Begriff Neurodivergenz beschreibt neurologische Unterschiede, die von der gesellschaftlich akzeptierten „Norm“ abweichen – etwa bei ADHS, Autismus oder Hochsensibilität. Diese Unterschiede sind keine Krankheit, aber oft mit Belastungen im Alltag und sozialen Miteinander verbunden.
ADHS bei Erwachsenen zeigt sich typischerweise durch:
- Impulsivität
- Menschen mit ADHS handeln oft spontan, ohne nachzudenken – sie sagen zum Beispiel Dinge unüberlegt oder wechseln plötzlich die Stimmung, was für andere überraschend oder verletzend wirken kann.
- Ablenkbarkeit
und Konzentrationsprobleme
- Die Aufmerksamkeit springt schnell von einem Reiz zum nächsten – selbst bei wichtigen Aufgaben fällt es schwer, bei einer Sache zu bleiben.
- Emotionale Dysregulation
- Gefühle wie Wut, Traurigkeit oder Freude treten sehr intensiv auf und lassen sich schwer steuern – kleine Auslöser können zu großen Reaktionen führen. Dies wird oftmals unterschätzt, ist aber in Beziehungen häufig zentral.
- Reizoffenheit und Überwältigung durch Umweltreize
- Geräusche, Lichter, Gespräche oder Bewegungen werden kaum gefiltert – das Gehirn nimmt „zu viel auf einmal“ wahr, was schnell überfordert.
- Probleme mit Exekutivfunktionen
- Fähigkeiten wie Planen, Organisieren, Priorisieren und Zeitmanagement oder einfach pünktlich sein funktionieren oft nur eingeschränkt – der Alltag kann dadurch chaotisch wirken.
- Hyperfokus
- Manche Menschen mit ADHS können sich stundenlang extrem auf eine Sache konzentrieren, also extremes Versinken in Einzelinteressen – während andere wichtige Aufgaben gleichzeitig komplett aus dem Blick geraten und dadurch vernachlässigt werden.
Diese Symptome wirken sich massiv auf die Beziehung aus – besonders, wenn der Partner oder die Partnerin neurotypisch ist und emotional anders „verkabelt“.
Mögliche Aussage der kompensierenden Partner:in:
„Manchmal fühlt es sich an, als müsste ich unsere ganze Beziehung zusammenhalten – allein.“
Typische Dynamiken
Beziehungsmuster: Wenn Nähe zur Überforderung wird
1. Die Rolle der „funktionierenden“ Person
Viele Partner:innen übernehmen mit der Zeit unbewusst eine
überverantwortliche Rolle. Sie strukturieren den Alltag, regulieren emotionale Ausbrüche, erinnern an Termine und „fangen auf“, was der ADHS-Partner nicht leisten kann. Dabei verlieren sie sich unter Umständen selbst.
Diese Rollenmuster ähneln häufig dem, was aus der Trauma- oder Co-Abhängigkeitsforschung bekannt ist: Die Beziehung wird zum
Reparaturbetrieb – statt zur gleichwertigen Partnerschaft.
2. Missverständnisse und Konfliktspiralen
ADHS kann dazu führen, dass Informationen anders verarbeitet und Emotionen intensiver erlebt werden. besonders NT-Partner:innen berichten oft von:
- Missverständnissen durch unterschiedliche Kommunikationsstile
- Konfliktscheuheit aus Angst vor Eskalationen
- Gefühl, „alles ganz vorsichtig formulieren zu müssen“
- Wiederholende Zyklen von
Nähe – Streit – Rückzug – Versöhnung
Mögliche Aussage der kompensierenden Partner:in:
„Es fühlt sich an wie ein Tanz auf Eierschalen – ich habe ständig Angst, ihn zu verletzen oder zu triggern.“
Rejection Sensitivity, DARVO & emotionale Überflutung
Ein zentrales, aber wenig bekanntes Thema ist die sogenannte
Rejection Sensitive Dysphoria (RSD) – eine extreme emotionale Reaktion auf Kritik oder Ablehnung, die bei vielen Menschen mit ADHS vorkommt.
Sie äußert sich durch:
- plötzliche Wutanfälle
- Rückzug und Schweigen
- Selbsthass und Schuldgefühle
-> Dazu mehr im nachfolgenden Blogartikel.
DARVO: Ein toxisches Konfliktmuster
DARVO steht für
Deny – Attack – Reverse Victim and Offender.
Das heißt: Leugnen – Angreifen – Täter-Opfer-Umkehr.
Typischer Verlauf:
- Leugnen von Kritik oder Verantwortung
- Angriff auf den Partner / die Partnerin („Du bist immer so negativ!“)
- Opferrolle einnehmen („Warum greifst du mich so an?“)
Dieses Verhalten ist häufig keine absichtliche Manipulation, sondern eine
emotionale Abwehrreaktion auf Überforderung und Scham. Diese geschiet meist unbewusst.
Dennoch: Für das Gegenüber ist es zutiefst verletzend.
Psychodynamik: Wenn die Partnerin zur Therapeutin wird
Im Alltag verschieben sich oft die Rollen. Die Partnerin wird zur:
- Planerin und Managerin
- Therapeutin und Trösterin
- „Mutter“, die reguliert und rettet
Die Beziehung verliert Gleichgewicht, Intimität und gegenseitige Versorgung.
Fragen, die helfen können:
- Bin ich in
Beziehung – oder im
Reparaturmodus?
- Ist meine
Fürsorge freiwillig – oder eine
Pflichtgefühl?
Selbstfürsorge
Was bedeutet Selbstfürsorge wirklich?
Selbstfürsorge wird oft missverstanden. Es geht nicht um Rückzug, Egoismus oder Ablehnung. Sondern um eine
klare, stabile innere Haltung, die dir erlaubt, in Beziehung zu
bleiben – ohne dich selbst aufzugeben.
Selbstfürsorge bedeutet:
- 🧘♀️
Selbstempathie statt Selbstkritik
- 🚧
Gesunde Grenzen, auch wenn andere das nicht mögen
- 🧠
Realistische Erwartungen, keine Illusionen
- 🛡️
Schutz des eigenen Nervensystems vor Dauerstress
Mögliche Gesundheitsförderliche Aussage der kompensierenden Partner:in:
„Ich darf für mich sorgen, auch wenn mein Gegenüber das als Zurückweisung empfindet.“
Tools & Unterstützung
Tools & Strategien für NT-Partnerinnen
Praktische Werkzeuge für den Alltag:
- 📚
Psychoedukation über ADHS
- ❗
„Stopp-Sätze“ in Eskalationen
- 🗣️
Ich-Botschaften, klare Kommunikation ohne Schuldzuweisung
- ✍️
Journaling zur Selbstklärung
- 🤝
Einzeltherapie/-Beratung oder Coaching, um emotionale Muster zu bearbeiten
- 👥
Selbsthilfegruppen, online oder vor Ort
Unterstützungsoptionen
Nicht alle Herausforderungen lassen sich allein lösen. Sinnvoll sind:
- Paar-Beratung /-Therapie mit ADHS-Kompetenz, z. B. Systemische Paarberatung oder Klientenzentrierte Gesprächsführung als mögliche Ansätze
- Einzelberatung /-therapie für Partner:innen - zur Stärkung des Selbstwerts und zur Reflexion
- Einzelberatung /-therapie für Partner:innen mit ADHS, zur Reflexion von eigenen Verhaltensweisen und Mustern, Einüben von Emotionsregulation, etc.
- ADHS-Coaching für Struktur und Alltagsorganisation
- Selbsthilfegruppen (z. B. Wohnzimmer Neurodivers e. V.)
Reflexion & Fazit
Reflexion: Was du nicht heilen musst
Am Ende steht nicht die Frage,
wie man alles „in den Griff“ bekommt – sondern: Wie du in Kontakt mit dir selbst bleibst, auch wenn dein Umfeld chaotisch ist. Um wiederum dadurch in deiner Paarbeziehung in Kontakt bleiben zu können - auf Augenhöhe und mit Liebe.
🧘♀️
Achtsamkeitsimpuls: Lege eine Hand auf dein Herz. Atme bewusst - tief ein und noch tiefer aus.
Sag dir:
„Ich bin bei ganz bei mir. Es ist in Ornung, auch wenn der andere in Aufruhr ist.“
Fazit: Selbstfürsorge ist Klarheit, kein Rückzug
Du darfst mitfühlend sein – und dich trotzdem klar abgrenzen. Du darfst lieben – und dennoch deine Gesundheit schützen. Beziehungen mit ADHS sind herausfordernd, aber nicht hoffnungslos. Sie können aufregend, lebendig und unglaublich bereichernd sein - wenn du innerlich gefestigt und stabil bist und bleibst. Ohne Selbstfürsorge geraten Beziehungen jedoch leicht aus dem Gleichgewicht. (Das gilt übrigens für alle Beziehungen!) Nur wenn du gut für dich sorgst, kannst du auch im (Beziehungs-)Sturm ruhig und bei dir selbst bleiben. Und nur so kannst du deinem Partner oder deiner Partnerin wirklich ein Halt sein – nicht durch Aufopferung oder „Wegducken“, sondern durch (Selbst-)Mitgefühl und deine innere Stärke.
✨
Mein Angebot: Unterstützung mit Herz, Verständnis und Fachwissen
Und wenn du auf diesem Weg nicht alleine gehen möchtest, bin ich gerne für dich – oder auch euch als Paar – da. Ob in Einzelgesprächen, im Coaching oder in einem achtsamen Paarsetting: Ich unterstütze dich dabei, Klarheit zu finden, Grenzen zu wahren und deine innere Stärke (wieder) zu entdecken. Mit fachlicher Expertise, Erfahrung im neurodivergenten Kontext und einem offenen Ohr für das, was dich bewegt.
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Danke, dass du dir Zeit für dich genommen hast – und für deine Gesundheit.
Deine
Sina Dorit -
die Nerd-Psychologin
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- Brach, T. (2008). Radikale Selbstakzeptanz: Wie wir uns selbst annehmen lernen und inneren Frieden finden (8. Aufl.). Arkana.
- CHADD.org. (n.d.). Children and Adults with Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. Retrieved from https://chadd.org
- Linehan, M. M. (2014). DBT skills training manual (2nd ed.). Guilford Press.
- Neff, K. (2022). Selbstmitgefühl: Wie wir uns selbst Freundlichkeit schenken und innerlich stärker werden. Kailash.
- Orlov, M. C. (2010). The ADHD effect on marriage: Understand and rebuild your relationship in six steps. Specialty Press.
- Schweppe, I. (2016). Dieses Problem lasse ich bei dir: Die Kunst, sich mitfühlend abzugrenzen. Kösel.
- Sehrt, N. (2020). Liebe passiert, Beziehung ist Arbeit: Wie eine gute Partnerschaft gelingt. ZS-ein Verlag der Edel Verlagsgruppe.
- Stahl, S. (2017). Jeder ist beziehungsfähig. Kailash Verlag.
- Young, S., & Bramham, J. (2012). Cognitive-behavioural therapy for ADHD in adolescents and adults: A psychological guide to practice (2nd ed.). Wiley Blackwell. https://doi.org/10.1002/9781119943440