Masking
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Warum viele neurodivergente Personen sich verstellen (müssen)
Viele neurodivergente Menschen leben mit einer Maske – oft unsichtbar für ihr Umfeld, aber allgegenwärtig im Alltag. Dieses sogenannte Masking ist keine bewusste Täuschung, sondern eine tief verankerte Strategie, um sich in einer normierten Welt anzupassen. In diesem Artikel geht es darum, wie und warum Masking entsteht, wen es besonders betrifft – und was dabei oft verloren geht: das eigene, authentische Ich.
🧩 Dieser Beitrag ist Teil einer dreiteiligen Reihe rund um Masking, Unmasking und Selbstfürsorge bei neurodivergenten Menschen – mit besonderem Blick auf neurodivergente Frauen.
📖 Die Artikel dieser Serie:
1.
🎭 Masking – Warum viele neurodivergente Menschen sich verstellen (müssen)
2. 🌱 Unmasking – Der Weg zum echten Ich
3. 💡 Unmasking im Alltag – Kleine Schritte zu mehr Echtheit
Warum viele neurodivergente Personen maskieren
1Warum viele neurodivergente Menschen maskieren – oft schon von klein auf
Masking beginnt früh – oft unbewusst, als Reaktion auf Ablehnung, Nicht-Verstanden-Werden oder Mobbing. Viele neurodivergente Kinder lernen bereits in jungen Jahren:
„So wie ich bin, bin ich nicht okay – aber wenn ich mich anpasse, werde ich akzeptiert.“
Diese Botschaft wird nicht immer direkt ausgesprochen, sondern oft über subtile Hinweise vermittelt: durch irritierte Blicke, ungefragte Korrekturen, ausbleibendes Lob oder soziale Ablehnung.
In Schule, Familie oder Freundeskreisen erleben viele ND-Kinder wiederholt, dass ihre natürliche Art zu denken, fühlen oder kommunizieren als „zu viel“, „zu seltsam“ oder „nicht passend“ empfunden wird.
In dieser Atmosphäre entsteht das, was später als
Masking bezeichnet wird – eine komplexe, meist unbewusste Anpassungsleistung, die darauf abzielt, nicht mehr aufzufallen, sozial zu funktionieren oder schlichtweg sicher zu sein.
➡️
Masking wird zur Überlebensstrategie in einer Welt, die neurotypische Normen zur Messlatte macht.
Diese Masken dienen dazu, Kritik, Ausgrenzung oder das Gefühl, „falsch“ zu sein, zu vermeiden. Sie helfen, durch den Schulalltag zu kommen, Freundschaften zu behalten oder Konflikten in der Familie zu entgehen. Dabei wird das eigene Selbst oft über Jahre – manchmal Jahrzehnte – unterdrückt oder unsichtbar gemacht.
Besonders häufig zeigen sich komplexe Maskierungsstrategien bei:
- ND-Frauen
- FLINTA-Personen
(Frauen, Lesben, inter*, nicht-binäre, trans und agender Personen)
- Menschen mit
hoher emotionaler Sensitivität
oder einer ausgeprägten
Rejection Sensitivity Dysphoria (RSD) – einer tiefen Angst vor Ablehnung.
Diese Gruppen sind häufig stärker auf soziale Sicherheit angewiesen, weil ihnen – gesellschaftlich wie individuell – weniger Raum für Abweichung zugestanden wird. Entsprechend tief verinnerlicht und perfekt angepasst kann das Masking sein – oft so sehr, dass selbst enge Bezugspersonen es nicht bemerken. Oder die Betroffenen selbst erst sehr spät verstehen, wie viel Kraft es sie eigentlich kostet.
Vor allem, da dieser Prozess so früh beginnt und Sätze wie:
- "Reiß dich mal zusammen."
- "Sei nicht so sensibel."
- "Stell dich nicht so an."
- "Die anderen machen das doch auch." oder:
- "Man macht das halt so."
dazu führen, dass das Gefühl "falsch zu sein" verstärkt wird. Dies fördert das meist unbewusste Masking, da man scheinbar zu funktionieren hat, egal wie und um welchen Preis.
Betroffene Formen von Neurodivergenz
Welche Formen von Neurodivergenz sind betroffen?
Masking kann bei vielen neurodivergenten Profilen vorkommen – z. B. bei:
- 🧩 Autismus-Spektrum
(AS)
- ⚡️ ADHS
(Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
- 🌸 Hochsensibilität (HSP)
- 🧠 Hoch- und Höchstbegabung
- 📚 Legasthenie, Dyskalkulie
und andere Lernunterschiede
Jede dieser Formen bringt ganz eigene Herausforderungen mit sich: in der Wahrnehmung, im sozialen Verhalten, in der Reizverarbeitung oder im Energiehaushalt. Masking hilft kurzfristig, sich anzupassen – langfristig zehrt es jedoch an der psychischen und körperlichen Kraft.
Masking bei Frauen
Warum maskieren besonders viele ND-Frauen – oft unbewusst? 👩🦰🧠
Frauen und queere Personen im neurodivergenten Spektrum betreiben
Masking besonders häufig –
und oft unbewusst – bereits seit der Kindheit.
Sie übernehmen
gesellschaftlich erwünschte Rollen, imitieren
soziale Normen oder gleichen Unterschiede durch übermäßige
Anpassung aus. Diese Masken entwickeln sich
nicht aus Täuschungsabsicht – sondern aus einem tiefen
Bedürfnis nach Zugehörigkeit und
Sicherheit in einer normierten Welt.
Gerade in binären Geschlechterrollen wird von Mädchen und FLINTA-Personen häufig erwartet, sozial kompetent, empathisch, angepasst und „pflegeleicht“ zu sein. Neurodivergente Kinder, die diese Erwartungen nicht intuitiv erfüllen, versuchen oft unbewusst, sie zu lernen – durch Beobachtung, Nachahmung und Selbstkontrolle.
➡️
Masking wird hier nicht nur zur Überlebensstrategie – sondern zur Methode, überhaupt als „normal“ wahrgenommen zu werden.
Mit der Zeit automatisieren sich diese Verhaltensmuster:
Masking wird zur Gewohnheit, zur Rolle, die so fest sitzt, dass selbst der Wunsch nach Authentizität schwer umzusetzen ist. Viele dieser Menschen können ihr wahres Ich gar nicht mehr klar benennen – weil sie es über Jahre oder Jahrzehnte stillgestellt haben. 🌀
Diese „perfekte Maske“ trägt auch dazu bei, dass besonders ND-Frauen oder nicht-binäre ND-Personen oft erst spät oder gar nicht diagnostiziert werden.
Denn nach außen wirken sie „funktionierend“, „unauffällig“, „freundlich“ – und fallen im klinischen oder pädagogischen Kontext häufig durch das Raster.
Hinter der Maske
Was wird durch Masking oft verdeckt? 🎭🧠
Masking betrifft nicht nur "auffällige" Verhaltensweisen – sondern reicht tief in die emotionale, kommunikative und kognitive Selbstwahrnehmung hinein.
Viele neurodivergente Menschen beginnen bereits in der Kindheit damit, ihr wahres Erleben zu verstecken – oft unbewusst, oft zum Selbstschutz.
👉 Doch was dabei auf der Strecke bleibt, ist das echte, authentische Ich.
Masking unterdrückt oder ersetzt häufig:
- natürliche Ausdrucksformen (z. B. Stimming, Rückzug, direkter Emotionsausdruck)
- individuelle Kommunikationsweisen (z. B. monotone Sprache, Vermeidung von Blickkontakt)
- emotionale Echtheit (z. B. ehrliche Freude, Trauer oder Überforderung)
- kognitive Selbstsicherheit (z. B. Fragen stellen oder Nichtverstehen eingestehen)
Typische Formen des Maskings
Typische Formen des Maskings – mit echten Stimmen Betroffener
🌀 Stimming unterdrücken
„In Meetings balle ich die Fäuste unter dem Tisch, damit niemand sieht, dass ich eigentlich mit den Händen flattern will.“
→ Beruhigende Selbstregulation wie Wippen, Kneten, Summen wird unterdrückt, um nicht „kindlich“ oder „komisch“ zu wirken.
🌀 Freude maskieren
„Ich habe mich über das Geschenk wirklich gefreut – aber ich wusste nicht, wie ich das zeigen soll. Also habe ich übertrieben gelächelt und laut gelacht. Danach fühlte ich mich leer.“
→ Emotionale Reaktionen werden imitiert, weil sie nicht den erwarteten Ausdrucksformen entsprechen.
🌀 Smalltalk performen
„Ich rede über das Wetter, obwohl es mich null interessiert – einfach nur, um sozial zu wirken.“
→ Soziale Routinen werden kopiert, obwohl sie anstrengend oder nicht intuitiv sind.
🌀 Reizüberflutung verstecken
„Ich trug eine Sonnenbrille auf dem Sommerfest und sagte: 'Alles gut' – obwohl ich innerlich völlig überreizt war.“
→ Überforderung wird überspielt, aus Angst, als „empfindlich“ abgestempelt zu werden.
🌀 Emotionale Authentizität filtern
„Ich weinte auf der Beerdigung nicht – nicht, weil ich nicht traurig war, sondern weil ich es nicht konnte. Danach hatte ich Schuldgefühle, weil alle dachten, ich sei gefühlskalt.“
→ Emotionen werden kontrolliert oder unsichtbar gemacht, um sozialen Erwartungen zu genügen.
🌀 Kompetenz vorspielen
„Ich sage oft, ich habe alles im Griff – obwohl ich innerlich völlig überfordert bin.“
→ Funktionieren wird zur Pflicht, auch wenn die Belastungsgrenze längst überschritten ist.
🌀 Kognitives Masking
„Ich lache über Witze, die ich nicht verstehe oder einfach nicht lustig finde – weil ich nicht schon wieder hören will, ich hätte keinen Humor.“
→ Auch Unsicherheiten im Verstehen oder Denken werden versteckt.
Reflexion & Fazit
Fazit: Masking schützt – aber es erschöpft
Masking ist keine Schwäche. Es ist eine kreative, oft unbewusste Anpassungsleistung in einer Welt, die neurodivergente Bedürfnisse selten wirklich versteht. Doch je länger diese Maske getragen wird, desto mehr kostet sie – Energie, Selbstwert und oft auch den Zugang zum eigenen Ich.
Viele neurodivergente Menschen spüren irgendwann: So kann es nicht weitergehen. Sie sehnen sich nach mehr Echtheit, innerer Ruhe und einem Leben, in dem sie sich nicht ständig verstellen müssen.
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Wie dieser Weg aussehen kann – hin zum Unmaskingt – darum geht es im nächsten Blogartikel:
📖
Teil 2: Unmasking – Der Weg zum echten Ich.
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Sina Dorit -
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- Lai, M.-C., & Baron-Cohen, S. (2015). Identifying the lost generation of adults with autism spectrum conditions. The Lancet Psychiatry, 2(11), 1013–1027. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(15)00277-1
- Radulski, E. M. (2022). Conceptualising autistic masking, camouflaging, and neurotypical privilege: Towards a minority group model of neurodiversity. Human Development, 66(2), 113-127. https://doi.org/10.1159/000524122
- McKinney, A., O’Brien, S., Maybin, J. A., Chan, S. W., Richer, S., & Rhodes, S. (2024). Camouflaging in neurodivergent and neurotypical girls at the transition to adolescence and its relationship to mental health: A participatory methods research study. JCPP advances, 4(4), e12294. https://doi.org/10.1002/jcv2.12294